Holzplastiken – Material und Credo

Was brauche ich?

Als Material für meine Holzplastiken dienen  vom Wind abgebrochene Kiefernzweige oder Buchenäste oder Reste vom Holzschlag, die alle ergeben darauf warten, dass Käferlarven, Wettereinflüsse und die  Zeit sie zur Auflösung bringen. Wenn ich diese Stücke im Rohzustand aus dem Wald hole, fühle ich mich wie ein Anti-Charon, der die Lethe in umgekehrter Richtung überquert, von den Toten zu den Lebenden. In meinem "Boot" befinden sich nur diejenigen, die sich durch ihre ungewöhnliche Hässlichkeit von den anderen Umherliegenden unterscheiden. Diese Auserwählten sind wahrscheinlich deshalb so verdreht, verkrümmt und verbogen, weil sie in ihrem ersten Leben von irgendeinem Virus befallen waren (Individualismus? Enthusiasmus? Exzentrik?) oder  weil sie, über die anderen Äste hinausragend, sehr vom Wind geschüttelt wurden.

 
Was tue ich?
Im Gegensatz zu Bildhauern, die von einem amorphen mächtigen Block das Überflüssige abschlagen, bis eine dinghafte Gestalt erscheint, suche ich Zeichen von Beseeltheit in den gewundenen Linien der Äste, in den Jahresringen der Stämme, in den ungewöhn-lichen Formen einer Verdickung, in den Keilschriften der Borkenkäfer oder der Pilze, die das Holz befallen haben (und die Schönheit eines Bildes post mortem zeigen). In der Reihe der vorhandenen Spuren und Äußerungen von Leben versuche ich etwas auszu-machen, das der menschlichen Eigenschaft entgegenkommt, das Bekannte im Unbekannten zu suchen, Ordnung zu schaffen, auch dort, wo das nicht möglich ist. 

Ich versuche also, einen Teil des pflanzlichen Organismus in eigenständige (tierische, phantastische) Wesen zu verwandeln. Meine Rolle ist die eines technischen Redakteurs von vorbereitetem Material: ich setze Betonungszeichen, verändere die Abfolge der Wörter, glätte den Satzbau und präsentiere dem Leser- Betrachter bloß einen bereinigten Text - nicht mehr. Es ist die Rolle einer Hebamme, die die unausbleibliche Geburt erleichtert.

In Längsrichtung zersägte Äste, die zu spiegelgleichen Zwillingen werden (und manch-mal sogar zu Drillingen oder Vierlingen, wie die auffliegende Gans oder das Bukett), unterscheiden sich von kanonischen Skulpturen wesentlich dadurch, dass  sie erlauben, mit ihnen zu spielen, vielfach ihre Stellung zueinander- nach oben und unten, nach links und rechts – zu verändern und damit auch ihren Wahrnehmungs-effekt Sie verschieben sich als Ganzes auf unserer emotionalen Skala, vom Tragischen zum Komischen, vom Symbolisch- Eindeutigen zum Offen-Ornamentalen. Bei der Veränderung der  Konstellation der Zwillinge kann sich sogar ihre innere Wesenheit verwandeln, etwa vom Vogel zur Blume.

Wenn ich ein Vorbild für meine Arbeiten nennen wollte, so müsste es der hervorragende Künstler Vadim Sidur sein (1924- 1986), der hierzulande ganz unbekannt  ist (obwohl in 14 deutschen Städten Skulpturen von ihm stehen) und der mich dazu gebracht hat, die Formeln der Erscheinungswelt im Chaos ihrer Teile zu suchen.

Sergej Winter


Der Natur abgelauscht

- Zu den Holzarbeiten von Sergej Winter -
Die feinsinnigen und filigran wirkenden Holzarbeiten von Sergej Winter zeigen eine besondere Verbindung zwischen der gewachsenen Naturform und einem künstlerischen Gestaltungswillen, der der Phantasietätigkeit einen breiten Raum gibt. Seinen Anfang nimmt der Arbeitsprozess bei im Wald aufgelesenen Fundstücken, abge-storbenen, oft skurril verwachsenen Ästen oder Wurzeln, die die Einbildungskraft des Künstlers in bestimmter Weise anregen und beflügeln. Die unbearbeiteten Formen des Holzes geben Richtungen an und zeichnen Möglichkeiten vor, denen der behutsam vorgenommene Gestaltungsakt nachfolgen kann. Aus knotenartigen Verdichtungen von Ästen werden zuweilen Köpfe von Tieren herausgearbeitet, die sich mit dem feingliedrigen Geflecht der zugehörigen Zweige zu eigenwilligen Fabelwesen verbinden.

Der Gestaltungswille des Künstlers sucht stets die organische Gestalt, die lebendige Form, die der Sphäre des biologischen Lebens angehört. Sein Formfindungsprozess steht dabei bestimmten Strategien des Surrealismus nahe, in denen eine von der äußeren Natur vorgegebene Gestalt zum Anlass einer Produktion von inneren Bildern wird. Allenthalben entdeckt er in seinen ausgewählten Fundstücken animalische Formen und Physiognomien, eine biomorphe Welt poetischer Art, in der sich Innen- und

Außenwelt zu durchdringen scheinen.

Die hohe Sensibilität des Künstlers gegenüber den Gestaltungen der Natur steht in einem direkten Zusammenhang mit einem anderen für ihn überaus wichtigen Tätigkeitsfeld. Über  zwei Jahrzehnte arbeitete Sergej Winter als Ornithologe in Russland. In ausgedehnten wissenschaftlichen Forschungsprojekten beschäftigte er sich dabei insbesondere mit der Beobachtung von Kranichen, aber auch von anderen Vögeln.

Die hier erforderliche Fähigkeit zu differenzierter Beobachtung und zur gewaltlosen Einfühlung in bestehende Naturzusammenhänge setzt sich unter den veränderten Bedingungen der künstlerischen Aktivität in seinen Holzarbeiten sichtbar fort. Dabei scheint nicht zuletzt der fragile Charakter der Vögel selbst beispielgebend für die hier oft sich durchsetzende Auffassung von plastischer Form zu sein. Vor dem biographischen Hintergrund des inzwischen in Deutschland lebenden Künstlers erscheinen seine Holzobjekte wie Zeichen einer mimetischen Praxis, die der Natur nachfolgt, sich in ihre Geheimnisse vertieft, ohne sie gewaltsam zu bearbeiten oder sie in ihr fremde Formen zu pressen. Der dem Geist der Romantik nahestehende Künstler besetzt hiermit eine gerade in der Gegenwart wichtige Position, die eine Versöhnung zwischen Natur und Geist als möglich demonstriert.

Dr. Hans Zitko